07. August 2021
von Manfred Loimeier
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Nathacha Appanah thematisiert den Alltag auf Mayotte

Die Handlung des Romans „Das grüne Auge“ der Schriftstellerin Nathacha Appanah aus Mauritius (Lenos Verlag, Basel; aus dem Französischen von Yla M. von Dach) lässt sich rasch resümieren: Eine junge Immigrantin hinterlässt in einem Krankenhaus auf der Insel Mayotte, wo der Roman spielt, ihren neugeborenen Sohn. Denn er hat zwei verschiedenfarbige Auge, und das gilt als böses Omen. Eine Krankenschwester, die sich ein eigenes Kind wünscht, nimmt das Baby mit sich und zieht den Jungen, Moïse genannt, groß. Im Pubertätsalter des Jungen, die Auseinandersetzungen und Fragen nach der Herkunft beginnen gerade, stirbt Marie, die Krankenschwester. Moïse verliert den Halt, wird Mitglied der Jugendgang von Bruce, dem Boss im Gaza genannten Ghetto-Viertel der Inselhauptstadt. Stéphane, der Sozialarbeiter einer NGO, bemüht sich kurz um Moïse, doch Bruce gibt ihn nicht frei, bestraft Moïse vielmehr für dessen Freiheitsimpuls. Am Ende erschießt Moïse Bruce und wirft sich in den Indischen Ozean.

Nathacha Appanah, écrivain, Gallimard , portrait

Nicht nur das Was aber macht dieses Buch Appanahs absolut lesenswert, sondern vor allem auch das Wie. Appanah, deren luzider, sphärenartiger Stil bereits durch ihre Romane „Blue Bay Palace“ (https://lenos.ch/autoren/appanah-nathacha) und „Der letzte Bruder“ (http://www.unionsverlag.com/info/person.asp?pers_id=1948) bekannt und mit gut einem Dutzend französischer Literaturpreise bedacht ist, setzt die Handlung von „Das grüne Auge“ in der Art eines polyphonen Erzählreigens zusammen. Mal erzählt Marie, die Krankenschwester, dann Moïse, Bruce, Stéphane – und kurz auch Olivier, der Polizist, von dem Moïse sich festnehmen ließ. Derart puzzleartig setzt sich sowohl das Geschehen dieses Romans zusammen als sich auch immer neue psychisch-emotionale Untiefen der Romanfiguren auftun.

Aufenthalt auf Mayotte

Hierbei hilft es zu wissen, dass das Buch „Das grüne Auge“ nach einem knapp dreijährigen Aufenthalt auf Mayotte der seit langem in Frankreich lebenden Autorin Appanah entstand. Dort auf Mayotte sah die auch als Journalistin publizierende Schriftstellerin nicht nur die smaragdgrün leuchtenden Lagunen, die den Tourismus befördern, sondern eben auch den Alltag arbeitsloser Jugendlicher und der Immigranten, die von den Komoren, aus Madagaskar oder vom afrikanischen Festland her mit Booten aller Art den Weg nach Mayotte suchen, dem 101. französischen Département und damit Tor zur Europäischen Union. Etwa die Hälfte der Einwohner auf Mayotte sind derartige Zuwanderer, und die Migrationsbewegungen dort waren schon lange Thema, bevor das Festlandeuropa im Jahr 2015 zum Ziel der Flüchtenden aus Syrien wurde. Das Meer zwischen Mayotte und den umliegenden Inseln sei der größte Unterwasserfriedhof der Welt, sagte der frühere Präsident der Komoren einst vor der UNO in New York.

Es ist mithin französisches Territorium, auf dem sich dieses Drama um das Findelkind Moïse vollzieht, auf dem Jugendkriminalität und soziale Verwahrlosung ein Maß angenommen haben, das offenbar selbst in den Pariser Vororten so nicht vorstellbar ist. Aber Appanah macht daraus eben keine Sozialreportage, sondern macht aus dem realen Stoff die literarische Ausgestaltung eines menschlichen Schicksals, das zugleich berührt und empört.

Literarische Anspielung

Appanahs Roman „Das grüne Auge“ steht damit in der Tradition der gesellschaftskritisch-realistischen Romane etwa von Victor Hugo, Eugène Sue oder Émile Zola. Aber sie stellt ihren Roman durch zahlreiche Anspielungen und Zitate auch in eine Reihe mit Henri Boscos Abenteuerroman „Die schlafenden Wasser“, 1945 erschienen als „L’Enfant et la rivière“. Ein Junge macht sich darin in die sagenhafte Welt eines Flusslaufs auf, stößt dort auf einen gefangengehaltenen Gleichaltrigen, befreit ihn und nimmt ihn mit zurück zu seinen Eltern, die ihn adoptieren.

Diese Zukunft und Behütetheit in Boscos Roman, den Moïse als Lieblingsbuch immer mit sich trägt, ist für Moïse in Appanahs „Das grüne Auge“ indes ein unerfüllbarer Traum. Und so hinterlässt diese Lektüre einerseits eine ernüchterte Betroffenheit und andererseits, durch Appanahs Sprache und Komposition, den Wunsch und den Glauben, dass Träume manchmal doch in Erfüllung gehen können müssen. In dieser Hoffnung und Zuversicht liegt die Kraft der Literatur, und Appanah gibt ihr in und mit ihrem Roman „Das grüne Auge“ eine neue und nachhaltige Wirksamkeit.

Übrigens:

Die von mir mitherausgegebene Anthologie „Nehmen Sie den Weg nach Süden“ (https://www.peter-hammer-verlag.de/buchdetails/nehmen-sie-den-weg-nach-sueden) trägt diesen Titel, weil mich die Lektüre von Nathacha Appanahs Buch „Der letzte Bruder“ und später „Blue Bay Palace“ so faszinierte, dass ich einen Satz aus Appanahs aus „Blue Bay Palace“ eben zu dem Buchtitel dieser Textsammlung „Nehmen Sie den Weg nach Süden“ machte.