09. Oktober 2022
von Manfred Loimeier
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Abdulrazak Gurnah und sein Roman „Nachleben“

Nun liegt er also in deutschsprachiger Übersetzung vor: der jüngste Roman von Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah. „Nachleben“ (Penguin Verlag, München, 381 Seiten, 26 Euro) heißt der Roman dieses Autors, der aus Sansibar stammt und seit rund 50 Jahren in Großbritannien lebt. Mehrere seiner Bücher, so etwa die jüngst wiederveröffentlichten Romane „Ferne Gestade“ und „Das verlorene Paradies“, weisen Bezüge zu Deutschland auf, aber keiner seiner bisherigen Romane ist so ausführlich der deutschen Kolonialvergangenheit und Nachkriegszeit gewidmet wie „Nachleben“.
Und zwar geht es in Gurnahs Roman „Nachleben“ vorrangig um die deutsche Kolonialvergangenheit in Ostafrika, aber der Titel des Buches deutet bereits an, dass diese Vergangenheit beileibe nicht abgeschlossen ist, sondern noch bis in die Gegenwart nachwirkt. So zumindest aus ostafrikanischer Sicht, denn in Tansania, wo die Handlung des Romans „Nachleben“ spielt, ist Deutschland deutlich präsenter als es umgekehrt Tansania hierzulande ist. Und insofern wird damit deutlich, dass Gurnahs Roman an eine doppelte Vergesslichkeit in Deutschland erinnert, nämlich an das Vergessen der Kolonialzeit einerseits und an das Vergessen der diplomatischen Beziehungen zur DDR andererseits. Denn diese hatte einst im Rahmen einer eigenen Afrikapolitik in Tansania eigene Schwerpunkte zu setzen versucht.

Historische Persönlichkeiten
Zwei junge Männer stehen im Mittelpunkt des Romans „Nachleben“: Zum einen ist das Ilyas, der als kleiner Junge von seinen Eltern weglief und von einem Offizier der Schutztruppe einem deutschen Kaffeepflanzer übergeben worden war. Dieser Farmer schickte Ilyas auf eine Missionsschule, und anschließend meldete sich Ilyas als Askari, als Hilfssoldat für die deutsche Kolonialarmee.
Zum anderen ist es Hamza, der von seinem verschuldeten Vater einem Kaufmann als Pfand gegeben wurde. Wie Ilyas meldet auch er sich für die Kolonialarmee und wird eine Art Adjutant für einen Oberleutnant, der ihm die deutsche Literatur nahebringt. Nach dem Krieg, dem Ersten Weltkrieg, heiratet Hamza Ilyas Schwester Afiya, aber von Ilyas selbst fehlt jede Spur. Nach ihm nennen Hamza und Afiya ihren neugeborenen Sohn ebenfalls Ilyas – und zu diesem scheint Onkel Ilyas auf magische Weise zu sprechen.
Das Besondere ist nun, dass sich der junge Ilyas auf die Spur seines Onkels macht, womit die Handlung des Romans bis Ende der 1960er Jahre fortgesetzt wird. Und so, wie der Roman damit auf zwei Zeitebenen spielt – der Kolonialzeit und der Nachkriegszeit des geteilten Deutschland –, so spielt der Roman auch auf zwei Handlungsebenen: einer fiktionalen und einer faktischen.
Die Figur des literaturbeflissenen deutschen Oberleutnants ist nämlich der historischen Person des Generalmajors Paul von Lettow-Vorbeck nachempfunden. Wie Lettow-Vorbeck treibt der Oberleutnant sein Regiment durch den Osten Afrikas und entzieht sich dem Zugriff der siegreichen britischen Armee. Und weil Lettow-Vorbeck als Befürworter eines deutschen Kolonialismus noch während des Nationalsozialismus verehrt wird, und weil „Heia Safari“, der Titel seiner Autobiografie, noch heute ein geläufiger Begriff ist, zeigt sich, wie lange Vergangenheit lebendig ist.

Ilyas – ein sprechender Name
Und auch die Figur des älteren Ilyas – sein Name ist selbstverständlich allein schon Programm – beruht auf einer historischen Persönlichkeit. Gurnah reicht sie gegen Ende seines Romans kurz nach, und tatsächlich lebte Ilyas, genauer: Bayume Mohamed Husen, als Swahili-Lehrer und Filmschauspieler in Hamburg und Berlin. Im Jahr 1944 wurde er wegen Rassenschande ins Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht, wo er starb. In seinen Filmen spielte er an der Seite von Hans Albers und Zarah Leander – diese Namen kennt man, denjenigen von Bayume Mohamed Husen hat man sich wohl nie gemerkt.
Und so ist der Roman „Nachleben“ in der sorgfältigen Übersetzung von Eva Bonné gewissermaßen Pflichtlektüre für Deutschsprachler. Nicht nur wegen der historischen Figuren, sondern auch wegen zahlreicher Anspielungen auf die Lyrik von Friedrich Schiller oder Heinrich Heine. Ihr literarisches Schaffen ist in Gurnahs Roman durchgehend präsent – nun muss nur noch Gurnahs literarisches Schaffen umgekehrt im deutschsprachigen Raum gegenwärtig werden.