07. Dezember 2021
von Manfred Loimeier
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Abdulrazak Gurnahs Roman „Das verlorene Paradies“ erscheint neu

„Paradise“ heißt dieser Roman des Literaturnobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah im englischen Original, „Das verlorene Paradies“ lautet der Titel seiner deutschsprachigen Übersetzung aus dem Jahr 1996, die der Penguin Verlag in München nun wieder, überarbeitet, veröffentlicht. Beide Buchtitel treffen auf die Handlung gleichermaßen zu, lassen zum einen als Paradies erscheinen, was die junge Hauptfigur Yusuf zum anderen dann doch hinter sich lässt.
Yusuf ist gerade einmal zwölf Jahre alt, als er von seinem verschuldeten Vater als Dienstjunge dem Kaufmann Aziz überlassen wird. Der handelt überwiegend mit Stoffen, Gold, Elfenbein und Kautschuk an der ostafrikanischen Küste, von Sansibar im Norden bis nach Mombasa im Süden. Aziz lässt Yusuf in einem seiner Läden an der Küste arbeiten, angewiesen wird Yusuf dort von Khalil, einem etwas älteren Schicksalsgenossen, und versorgt von den meist unsichtbaren Frauen in den Hinterzimmern des Handelshauses.
Die wachsende Freundschaft zwischen Yusuf und Khalil bildet die Rahmenhandlung dieses Romans „Das verlorene Paradies“, mit dem der von Sansibar stammende Autor Gurnah im Jahr 1994 seinen literarischen Durchbruch erlebte. Die Handlung ist indes gut 100 Jahre zuvor angesiedelt, als an der Ostküste Afrikas sowohl indische Händler unterwegs waren als auch arabische Sultane aus Oman herrschten und zugleich Briten und Deutsche ihr Herrschaftsgebiet ausweiteten, bis tief ins afrikanische Landesinnere hinein.

Im Stile Joseph Conrads
Allerdings spielt die wachsende Präsenz der Europäer in diesem Roman eine eher untergeordnete, noch beiläufige Rolle. Viel wichtiger sind dagegen die Handelsexpeditionen, die der Kaufmann Aziz mit Dutzenden von Trägern in das Landesinnere hinein unternimmt.
Mit dabei ist schließlich auch Yusuf, der auf diese Weise von den Gepflogenheiten und Gefahren des Lebens in den Bergen Ostafrikas und an den Seen dort erfährt. Als Wilde werden die dort lebenden Menschen von der Küstenbevölkerung bezeichnet, für die die Gegenden im Landesinneren unbekanntes Terrain sind.

(Siehe dazu mein Interview mit Abdulrazak Gurnah aus dem Jahr 2016: https://www.manfred-loimeier.de/wp-admin/post.php?post=731&action=edit)
Siehe desgleich auch unter Litprom: https://www.litprom.de/nachrichten/nobelpreis-2021-abdulrazak-gurnah/

Unbekannt war dieses Kapitel in der Geschichte seiner Heimat aber auch für den Autor Gurnah selbst. Mit knapp 18 Jahren hatte er aus politischen Gründen Sansibar verlassen müssen, erst gut 20 Jahre später konnte er wieder nach Tansania zurückkehren und musste sich das Wissen um die Vergangenheit seines Landes selbst erst aneignen. „Das verlorene Paradies“ wurde sein erster historischer Roman – und blieb das bis zum Erscheinen gleichsam seiner Fortsetzung „Afterlives“ im vergangenen Jahr auch.
In der Gestaltung seiner Binnengeschichte folgt Gurnah Joseph Conrads Roman „Herz der Finsternis“ –die Handelsexpedition mit Yusuf ins Landesinnere wird zu einem lebensgefährlichen Abenteuer.
Doch auch nach der Rückkehr ist Yusufs Alltag in Aziz’ Handelshaus von fremden Regeln und Gesetzen bestimmt. Und die Versuchung eines selbstbestimmten Lebens, der Yusuf dort zunächst unterliegt, entpuppt sich rasch als Illusion. So verblüffend es ist, so erklärbar ist es auch, dass Yusuf am Ende das Gefängnis seines Paradieses verlässt – und der Kolonne eines deutschen Offiziers folgt.
Verklärung der afrikanischen Vergangenheit ist Gurnahs Sache also nicht – seine Kritik an der geschilderten Form von Menschenhandel ist ebenso unübersehbar wie am Wegsperren von Frauen aus dem öffentlichen Leben.

(Siehe dazu mein Gespräch mit Abdulrazak Gurnah aus dem Jahr 2001: https://www.manfred-loimeier.de/wp-admin/post.php?post=728&action=edit)

Allerdings zeigt Gurnah in seinen detaillierten Schilderungen auf sehr anschauliche Weise und in einem sehr ruhigen Tonfall, das es eben schon vor der europäischen Kolonialisierung gesellschaftliches Leben vor Ort in Afrika gab, ebenso Handelsbeziehungen in weite Teile der Welt.

Märchen aus der Swahili-Kultur
Auch Märchen aus der Swahili-Kultur fließen in Gurnahs Darstellungen ein, Erzählungen von Dschinns und Ungeheuern sowie Legenden von sagenumwobenen Gegenden – und das sind aus der damaligen Sicht der Menschen in Ostafrika Länder wie Russland oder Kirgistan. Auch diese Perspektivumkehr ist es, die die Lektüre des Romans „Das verlorene Paradies“ auch nach 27 Jahren lohnenswert macht.

Siehe dazu meine Besprechung im Saarländischen Rundfunk: https://www.sr.de/sr/mediathek/audio/SR2_SR2_DN_6474.html

Siehe dazu bei WDR 5 Scala: https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-scala-hintergrund/audio-der-nobelpreistraeger-abdulrazak-gurnah-100.html

und auch im  Ö1 Morgenjournal des ORF: https://radiothek.orf.at/oe1/20211207/662494/1638858253000

Siehe dazu ferner auf der Webseite des Penguin Verlags: https://www.penguinrandomhouse.de/Abdulrazak-Gurnah/aid89964.rhd#Header