Der Roman „Ferne Gestade“ von Nobelpreisgewinner Abdulrazak Gurnah aus Sansibar ist wieder erhältlich
Mit der Neuauflage des Romans „Ferne Gestade“ fährt der Penguin Verlag in München fort, das Werk des britisch-tansanischen Literaturnobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah wieder zugänglich zu machen (413 Seiten, 26 Euro). In „Ferne Gestade“ aus dem Jahr 2001 – schon 2002 in der deutschsprachigen Übersetzung von Thomas Brückner erschienen – verknüpft Gurnah die Biografie seiner zwei Protagonisten und verfolgt damit einen generationenlang zurückliegenden Konflikt.
Gurnah flicht zudem zahlreiche Reverenzen an den US-Autor Herman Melville und vor allem dessen Erzählung „Bartleby der Schreiber“ ein, und eine besondere Rolle spielt außerdem Aloeharz, Ud-al-Qamari. Das ist ein Duftharz, das aus dem Holz eines bestimmten Aloebaums in Asien gewonnen wird, auch Holz des Mondes genannt wird, und dessen Transport nach Ostafrika auf uralte Handelswege verweist. Es steht im Roman „Ferne Gestade“ auch für Identität und Herkunft, für die Geschichte der im britischen Kolonialreich untergegangenen Sultanate in Südostasien.
Zur Handlung: Saleh Omar, ein Exilant aus Sansibar, strandet auf dem Flughafen Gatwick bei London. Bei sich hat er eine kleine Tasche, in der er als seinen wertvollsten Besitz eine kleine Kiste aus Mahagoniholz mit sich führt, in der er Aloeharz aufbewahrt – und genau diese Kiste mit dem Rauchwerk als letztem Gut aus seiner Heimat wird ihm bei der Einreise nach Großbritannien abgenommen.
Saleh Omar gibt vor, nicht Englisch zu sprechen, und er gibt seinen Namen als Rajab Shaaban an. In Rückblenden erzählt Gurnah in der Ich-Form von Saleh Omars Leben auf Sansibar, wo Saleh Omar Inhaber eines Möbelgeschäftes war, Familienvater und Hausbesitzer, während er sich nun in Westeuropa als Asylbewerber in einem Heim der Einwanderungsbehörde wiederfindet.
Saleh Omars Geschichte kontrastiert Gurnah mit dem Schicksal der zweiten männlichen Hauptfigur, Latif Mahmud. Auch dieser stammt aus Sansibar, ist bei seiner Flucht aus Tansania aber nicht nach Westeuropa gegangen, sondern zunächst als Stipendiat zum Studium in Tansanias damaligen Bruderstaat, die DDR. Von dort kam Latif Mahmud nach London, wo er als Professor und Poet lebt. Ereignisse in der Vergangenheit, vor allem eine Finanzanleihe, haben Saleh Omar und Latif Mahmud miteinander verbunden. Und es zeigt sich, dass Handlungen aus lange vergangener Zeit das Schicksal und Verhalten von Menschen noch immer nachhaltig prägen kann. Seit seiner Ausreise aus Sansibar hält Latif Mahmud daher Saleh Omar verantwortlich für den finanziellen Niedergang seiner Familie, in dessen Verlauf sein Vater Alkoholiker wurde, seine Mutter sich Liebhaber suchte und die Familie das Haus verlor.
Die beiden Männer hören nun nach Jahrzehnten wieder voneinander, als Latif Mahmud von den Behörden in London gebeten wird, als Übersetzer bei der Befragung von Saleh Omar zu helfen. Bei einer späteren Begegnung der beiden enthüllt sich die Geschichte aus Liebe und Betrug, Verführung und Besessenheit – und die Geschichte eines Landes, dessen Bevölkerung sich nach Stabilität sehnt. Latif Mahmud konfrontiert Saleh Omar mit seinen Vorwürfen und hält ihm vor, den Namen seines Vaters, Rajab Shaaban, geraubt zu haben. Saleh Omar wiederum erklärt ihm, wie er rechtmäßig in den Besitz Rajab Shaabans gekommen war – das Haus war das Pfand für den Kredit. Außerdem wirft umgekehrt er Latif Mahmud vor, auf die Anschuldigungen der Familie Shabaan hin ins Gefängnis geworfen worden zu sein. Und er schildert, wie er Frau und Kind verlor und es ihm nur mit falschem Namen gelang, das Land zu verlassen. Letztlich finden Saleh Omar und Latif Mahmud durch ihre Gespräche über das Zerwürfnis ihrer Familien zu einer Versöhnung.
Bei seinem Studienaufenthalt in der DDR trifft Latif Mahmud im Übrigen auf Menschen, deren Vorfahren einst als Siedler in Kenia lebten, nachdem sie nach dem Ende des Ersten Weltkriegs aus der zerfallenen K.u.K.-Monarchie Österreich-Ungarns sowie 1938 zurück nach Deutschland geflohen waren, als ihnen im britischen Kenia die Vertreibung drohte. Gurnah signalisiert damit, dass auch für Europäer Flucht und Vertreibung keine unbekannten Schicksale sind, und dass für sie Länder in Afrika mitunter Fluchtpunkte waren – Migration ist nicht nur eine Nordwanderung. Und dergestalt weist Gurnahs sehr visuell geschriebener Roman in der überarbeiteten Übersetzung eine besondere Aktualität auf.
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