Europa? Europa!
Die europäische Idee sei insbesondere wegen der Brexit-Debatten ins Wanken gekommen, heißt es zurzeit. In der Tat scheint der Rückhalt für Europa zu schrumpfen. Die Beweise, die dafür des Weiteren herangezogen werden – Ungarns Innenpolitik, Polens Gesetzgebung, Italiens Haushaltsplan unter anderem –, sind aber weniger Ursachen, sondern vielmehr Symptome einer Krise. Einer Krise, die im Übrigen damit ihren Lauf nahm, dass ihr Wolfgang Schäuble den gedanklichen Boden bereitete – sein Gerede vom Grexit machte die Möglichkeit, die Europäische Union verlassen zu können, überhaupt erst salonfähig und erwägenswert.
Tatsächlich ist die Finanz- und Wirtschaftskrise des Jahres 2008 der Grund dafür, warum Europa an seine Grenzen stößt. Die damals eingeleitete – und mal mehr, mal weniger als sinnvoll erachtete – Sparpolitik verlangte von den Mitgliedstaaten besondere Anstrengungen, um Haushaltsdefizite vermeiden und Bankenstützungsprogramme unterhalten zu können. Die Folgen sind allerorten erkennbar: marode Infrastruktur, kaputte Schulgebäude, weniger öffentlicher Wohnungsbau.
In diese Phase der zurückgehenden staatlichen Leistungen prallte im Jahr 2015 die Zuwanderungsdebatte. Sie hätte die Mangelverwaltung der öffentlichen Hand thematisieren können, schürte indes einen sogar nachvollziehbaren Sozialneid. Waren in Deutschland Lehrerstellen nicht wiederbesetzt, Polizeistellen gestrichen und Sozialstellen nicht aufgestockt worden, schlugen die Länder angesichts der Migrationsaufgaben den gegenteiligen Kurs ein: plötzlich waren Lehrer gefragt, Polizisten wieder geschätzt, Sozialarbeiter dringend gesucht. Nochmals: Ursache dafür waren nicht die Zuwanderer, sondern die Personalkürzungen im Rahmen der vorangegangenen Sparmaßnahmen infolge der Finanzkrise und Stabilitätspolitik.
Die sogenannte Flüchtlingskrise machte mithin europaweit nur sichtbar, was unterschwellig an Versäumnissen aufgelaufen war. Und die Debatte über Integration und Schutz der Außengrenzen der EU mag zwar sinnvoll sein, geht am Kern des Problems indes vorbei.
Die Bürger Europas, so das Ergebnis einer jüngsten Umfrage, schätzen ein Europa ohne Grenzen. Und sie schätzen ein sozial gerechtes Europa – ein Europa, in dem man nicht um wenige Wohnungen konkurrieren, in dem man nicht an Schulen verzweifeln, nicht über den Zustand von Straßen und Gleisen den Kopf schütteln und nicht monatelang auf gegebenenfalls erforderliche Sozialleistungen warten muss.
Die Menschen wollen ein Europa der Freiheit, der Gleichberechtigung und des sozialen Miteinander. Und insofern sind die Werte Europas nicht etwa in eine Krise geraten, sondern durch finanzielle Fragen in den Hintergrund gedrängt worden. Das weist aber genau auch darauf hin, was Europa den Weg in eine bessere Zukunft ebnen kann: die Beantwortung der sozialen Frage. Wer die europäische Idee stärken will, muss sich auf ihre Grundwerte besinnen: ein Europa der Gemeinsamkeit, des Füreinander und der Selbstbestimmung. Und so lautet denn auch die Aufgabe für die Politiker: Denkt weniger an die Belange der Märkte, sondern vielmehr an die Bedürfnisse der Menschen.
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