Literaturnobelpreisträger J.M. Coetzee seziert in seinem Roman „Der Pole“ die menschliche Gefühlswelt
„Es ist ein angenehmer Herbsttag. Die Blätter färben sich und so weiter.“ Dieser Satz ist bezeichnend für Stil und Thema des neuen Romans „Der Pole“ von Literaturnobelpreisträger J.M. Coetzee (Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 144 Seiten, 20 Euro). Aber zunächst zur Handlung: Die Koordinatorin eines Kunstzirkels in Girona, Spanien, begegnet eher zufällig einem alternden Pianisten und Chopin-Virtuosen aus Polen – daher der Romantitel. Der Pianist fühlt sich zu der gut 20 Jahre jüngeren, eleganten Dame hingezogen und lädt sie zum Essen ein. Spätestens jetzt geht die Handlung des Romans nicht so weiter wie gewöhnlich in Liebesromanen – dieses Übliche ist mit dem „und so weiter“ genug umschrieben.
So viel zum Erzählstil, und so viel zum Thema. „Der Pole“ ist kein Liebesroman, aber ein Roman darüber, was Menschen zusammenführt und zusammenhält. Beatriz, wie die elegante Dame unter Anspielung auf Dantes „Göttliche Komödie“ heißt, findet Witold Walczykiewicz nämlich weder attraktiv noch übermäßig sympathisch. Und dass er Chopins „Nocturnes“ nicht verträumt-romantisch spielt, sondern eher nüchtern-analytisch, findet sie eher brüskierend – aber interessant.
So handelt dieser Roman – wie die Chopin-Interpretation durch den Pianisten – nicht von den Gefühlstrillern romantischer Liebe, sondern à la Goethes „Wahlverwandtschaften“ von Chemie und Prozessen der Zuneigung. Beatriz nämlich wird bewusst, was ihr in ihrer Ehe fehlt – das Begehrtwerden –, sie gerät in Versuchung und folgt ihr. Das hat allein mit ihr selbst zu tun, denn was bietet der Pianist schon, der nur von dem Frieden spricht, den er in Beatriz’ Gegenwart spürt und weiter spüren möchte.
Und so taucht der Roman in kurzen, eindeutigen Sätzen in das Innerste der beiden Figuren, überwiegend in die Innenwelt Beatriz’. Sie arrangiert eine gemeinsame Woche auf Mallorca, bei Valldemossa, wo sich einst Frédéric Chopin mit George Sand traf. Beatriz gewährt Witold zudem Zutritt zu ihrem Schlafzimmer und ist überrascht, dass das alles so einfach geht, ohne allzu große Lügen gegenüber ihrem Mann, ohne große Ansprüche überhaupt. Liebe ist ein viel zu großes Wort, da es doch nur um Begegnung geht, um hinter sich gebrachte Nächte.
Was Beatriz ein Jahr später nach des Pianisten Tod dann doch überrascht: Witold hat ihr einen langen Gedichtzyklus gewidmet. Den abzuholen reist sie nach Warschau und lässt die Gedichte übersetzen. Da ist wenig von Liebe, viel von Bewunderung und Begattung die Rede. Also was ist es, was Menschen zusammenbringt und miteinander verbindet? Denn Beatriz, die Witold schon lange vergessen glaubte, kann ihn dennoch nicht vergessen, sondern schreibt postume Antwortbriefe. Da ist nicht von Werben, Verführen und Versprechen die Rede, sondern es offenbart, was jemand in jemand anderem ausgelöst hat, wohin ein anderer Mensch jemanden – ohne Absicht – führte.
Coetzee erzählt das in knappen Worten und wenigen Sätzen. „Der Pole“ ist ein dünnes Buch. Aber die Tiefen, die sein Text öffnet, sind geradezu unendlich und entziehen der gesellschaftlichen Konvention von romantischer Liebe den Boden. Liebe als soziales Konstrukt dieser Welt eine Chimäre – diese These der Romantikkritik ist freilich nicht neu und widerfuhr schon Goethes „Leiden des jungen Werthers“. Aber geht es wirklich nur um Paarung, um im gegenseitigen Einverständnis miteinander verbrachte Zeit?
Coetzee wirft in seinen Romanen seit jeher lieber Fragen auf, als dass er Fragen beantwortet. Seine Romane sind sezierend – sei es seine jüngste Trilogie über das Leben Jesu, seien es seine Traktate über das Leben der Tiere und ihren Anspruch auf menschlichen Respekt als gleichberechtigte Wesen der Natur.
Und so ergeht es bei der Lektüre dieses Romans „Der Pole“ wie Beatriz mit Witold. Es ist kein attraktiver, kein umwerfender, kein mitreißender Roman. Aber es ist ein Roman, der einen nicht loslässt, der einem zu denken gibt und sich nicht einfach in das Vergessen verschieben lässt. Die Konventionen und Komplikationen menschlicher Begegnung – was für eine Komödie! Könnten wir Menschen doch einfach damit leben, schlicht zu fragen: Willst du deine Zeit mit mir verbringen? Und zu antworten: Nein. Oder vielleicht auch: Ja.
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