Mia Coutos Doppel-Roman „Asche und Sand“ über Mosambiks portugiesische Kolonialvergangenheit
Mia Couto ist nicht nur der bekannteste Schriftsteller seiner Heimat Mosambik, sondern auch einer der maßgeblichsten Autoren portugiesischer Sprache überhaupt. Er ist Mitglied der Brasilianischen Akademie der Wissenschaften, erhielt im Jahr 2013 den Prémio Camões und den Internationalen Neustadt Preis für Literatur und inspirierte mit seinen Theaterstücken und Romanen den schwedischen Autor Henning Mankell. Zuletzt hat der 65-jährige Journalist und Autor – zugleich Professor für Biologie an der Universität Maputo und Leiter des grenzüberschreitenden Limpopo-Nationalparks – eine Trilogie geschrieben, deren erster Teil „Imani“ vor vier Jahren auf Deutsch erschien. Nun liegt der Band „Asche und Sand“ vor, der die beiden weiteren Teile von Coutos Trilogie vereint (Unionsverlag, Zürich, 536 Seiten, 19,99 Euro).
536 Seiten hat dieses Buch „Asche und Sand“, 19 Fotografien eingeschlossen. Und diese 19 historischen Schwarzweiß-Aufnahmen deuten darauf hin: Die Romanfiguren und Geschichten beruhen größtenteils auf realen Persönlichkeiten und historischen Fakten. Die Rede ist von dem südostafrikanischen Herrscher Ngungunyane, dem „Löwen von Gaza“. Dieser regierte gegen Ende des 19. Jahrhunderts über ein Reich aus der Volksgruppe der Zulu und geriet in innen- wie außenpolitische Machtkämpfe. Vom Indischen Ozean her drang die portugiesische Kolonialarmee vor, aus dem Süden intrigierte das britische Imperium, und im Gaza-Reich selbst regte sich Widerstand gegen die Schreckensherrschaft des Königs.
Man muss den ersten Teil der Trilogie, den Roman „Imani“, nicht gelesen haben, um verstehen zu können, worum es in „Asche und Sand“ geht. Aber der Unionsverlag in Zürich hat gut daran getan, die beiden folgenden Teile der Trilogie in einem einzigen Band zusammenzufassen. Die erste Hälfte davon handelt von den siegreichen Schlachten der Portugiesen gegen den Herrscher von Gaza, und geschildert ist das in Form eines Briefromans. Das liest sich handlungsarm und in Berichtsform: Der schwer verletzte portugiesische Soldat Germano de Melo wird von Imani, seiner Geliebten, in ein Krankenhaus gebracht und erfährt durch die Briefe von den blutigen Kämpfen. Mehr noch aber geht es durch den Zwischenstopp in einer Kirche um eine Gegenüberstellung verschiedener Kulturen und Lebensweisen, um unterschiedliche Auffassungen von Religion und Natur.
Dieser Kulturvergleich endet mit der Festnahme Ngungunyanes, des Königs von Gaza, und seiner Verschiffung auf dem Limpopo-Fluss hinab zur Mündung des Flusses in den Indischen Ozean. Von dort aus geht es weiter in Richtung der Kolonialmetropole Lourenço Marques, der heutigen mosambikanischen Hauptstadt Maputo. Damit beginnt die zweite Hälfte dieses Buches „Asche und Sand“, die von der Überfahrt nach den Kapverden und nach Lissabon handelt und von der folgenden Verbannung der afrikanischen Königsfamilie auf die Azoren. Mit an Bord sind die ebenfalls inhaftierten Gegner des Königs, die gleichermaßen gegen die portugiesische Kolonialarmee revoltiert hatten. Hier zeigt sich das psychologische Geschick des Autors Couto, denn er führt vor Augen, wie sich Erniedrigung und Selbstaufgabe, wie sich Neid, Hass und Intrigen, Hoffnung und aufrechterhaltener Stolz anfühlen. Dass der Soldat Germano de Melo schließlich seiner geliebten Imani und ihrem gemeinsamen Kind einen Abschiedsbrief schreibt, kommt dann etwas unvermittelt. Überzeugender ist dagegen die Schlusspassage dieser Trilogie, mit der sich der Autor Couto selbst ins Spiel bringt und an den Anfang seines Erzählens anknüpft.
Während sich nämlich Imani nach und nach darüber klar wird, dass sie – schon aufgrund ihrer Position als Dolmetscherin – stets zwischen zwei Kulturen stehen wird, schildert Couto anhand weiterer Figuren, wie sich unter der afrikanischen Bevölkerung eine Orientierung an europäischen Werten herauszuprägen beginnt und wie schon zu Zeiten des portugiesischen Kolonialismus Kritiker desselben in Lissabon ihre Stimme erhoben. Couto behandelt so die Themen kulturelle Entfremdung und Rassismus, und damit erhält „Asche und Sand“ wie die komplette Trilogie mit der Fiktionalisierung von Historie eine aktuelle Bedeutung.
So bietet dieser von Karin Schweder-Schreiner feinfühlig übersetzte Band „Asche und Sand“ eine zwar nicht ganz einfache, im Ganzen aber nachdrückliche Lektüre. Auch Coutos metaphernreiche Sprache wirkt mitunter manieriert – und bleibt wegen des Bildreichtums dann doch als anschaulich und poetisch in Erinnerung. Geschichte in Geschichten erzählt – das ist kunstvoll und zugleich unvergesslich.
„Ich sehe mich als Vermittler von Kulturen“: Mia Couto spricht über eine Welt, in der es kein Wort für Realität gibt
ML: In Ihren Romanen verbinden Sie historische Daten mit Fiktion. Geht es Ihnen darum, der Vergangenheit neues Leben einzuhauchen oder ihre Folgen für die Gegenwart zu zeigen?
MC: Nun, ich denke, dass Fakten und Fiktion miteinander verfließen – bevor fiktives Schreiben beginnt. Wenn ich zurückschaue und über die Vergangenheit nachdenke, fand und finde ich immer wieder, dass es nicht nur eine einzige, sondern mehrere Vergangenheiten gibt – und verschiedene Versionen davon, was wir unter Fakten verstehen. In Portugal haben wir für Geschichte und Geschichten dasselbe Wort „éstoria“, und so leuchtet uns ein, dass das, was wir als die große Geschichte sehen, aus vielen kleinen Geschichten besteht. Aber was mich interessiert, ist weniger das, was war, als das, was noch gegenwärtig ist.
ML: Schon Ihr Roman „Imani“ als Auftakt dieser Trilogie spielt auf verschiedenen Ebenen und wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt: aus der Sicht eines portugiesischen Soldaten, aus der Sicht der afrikanischen Dorfgemeinde, aus der Sicht des Mädchens Imani, der Dolmetscherin. Wie bedeutsam ist diese Figur der Imani innerhalb der Trilogie, wegen ihrer Position als Übersetzerin, als Vermittlerin in der interkulturellen Begegnung?
MC: Ich sehe mich selbst als Übersetzer, als Vermittler von Kulturen. Ich lebe zwischen zwei Vorstellungen von Identität: als weiße Person, die in einem schwarzen Land lebt; ich bin Afrikaner europäischer Herkunft; ich bin Naturwissenschaftler umgeben von metaphysischen und metaphorischen Sichtweisen auf die Welt; Schriftsteller in einer Welt, in der die Menschen kaum schreiben – es ist eine orale Umgebung. Zwischen Welten zu sein – ich dachte früher, das wäre ein Drama, aber vielleicht ist es das Beste, was mir in meinem Leben widerfahren ist, in dieser Grenzgängersituation zu sein.
ML: Der Auftaktroman der Trilogie, „Imani“, ist Henning Mankell gewidmet. War Mankell auch eine Art Dolmetscher zwischen den Kulturen?
MC: Ja, er sagte ja selbst, dass er einen Fuß im Norden und einen im Süden hat, er kann die Welten verbinden. Aber sie sind nicht so verschieden, wie es wegen der geografischen Entfernung zu sein scheint, ich denke, das ist eine Konstruktion. Wir teilen uns die selbe Welt. Nehmen Sie den Gegensatz zwischen mündlicher und schriftlicher Welt – beide sind so sehr ineinander verschränkt, wir leben als Kinder in dieser mündlichen Welt, und sie ist nicht verschwunden, sie ist nach wie vor in uns. Oralität ist nicht außerhalb der Ersten, ist nicht weit weg in der Dritten Welt, sondern ist in uns und führt uns zu uns.
ML: Mit Ihrer Art der Verknüpfung von Fakten und Fiktion stehen Sie ja nicht allein – der angolanische Autor José Eduardo Agualusa arbeitet ähnlich. Arbeiten Sie beide auch zusammen?
MC: Nun, wir sind Freunde, wir sind gewissermaßen Brüder. Wir sprechen über unsere Pläne, über die Bücher, die wir gerade schreiben, das tut uns beiden gut. Wir haben mehrere Theaterstücke gemeinsam geschrieben. Er hat seinen eigenen Stil und arbeitet über angolanische Themen, ist aber mit Mosambik sehr vertraut.
ML: Nahezu alle Ihre Bücher spielen auf mehreren Wirklichkeitsebenen: erzählte Realität, Träume und Assoziationen, metaphysische oder besser immaterielle Welt. Ist dieses Modell nur in der Literatur möglich oder ist das Ihr Konzept, Ihr Verständnis von Wirklichkeit?
MC: Ich komme aus einer Welt, in der es kein Wort für das gibt, was Realität meint. Das ist keine literarische Konstruktion, das spiegelt die Beziehung wieder, die die Menschen in meinem Land zur sichtbaren wie zur nicht sichtbaren Welt haben. Wenn ich beispielsweise schriebe, ich träumte vergangene Nacht, ich würde ein Baum werden, dann ist das für die Leser nicht Fantasy; das ist etwas, was passieren kann. Wenn das als Magischer Realismus klassifiziert wird, dann interessiert mich daran diese irreführende Trennung zwischen Realität und Nicht-Realität. Es geht nicht darum, dass das Phantastische nett wirken soll oder exotisch, sondern ich will damit betonen, dass die Trennung ein Konstrukt ist, Einbildung.
ML: Die zeitliche Trennung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist dann auch eine Konstruktion?
MC: Schauen Sie, als ich mich darauf vorbereitete, diesen Stoff zu gestalten, hatte ich zwei Hilfsmittel: die Dokumente, die sehr konkreten portugiesischen Aufzeichnungen; und ich wusste, ich habe keine so konkreten Unterlagen über die mosambikanische Sicht. Also fuhr ich an diese Orte und hörte den Erzählungen über diese Zeit zu, den Liedern, Zeitzeugenüberlieferungen, den Tänzen. Und für mich war es ganz offensichtlich, dass es verschiedene Auffassungen von Zeit gibt. Ich sprach über Menschen, die seit mehr als einem Jahrhundert tot sind, aber für die Menschen, mit denen ich sprach, waren sie nicht vergangen, nicht tot. Sie hörten ihnen zu, sagten, sei vorsichtig, sie sind hier, hören dir zu. Das ist ein eigenes Zeitverständnis – Zeit ist nicht linear, nicht chronologisch. Wir hatten hier Bürgerkrieg, von 1978 bis 1992, und den haben wir aus der Erinnerung gestrichen, das ist eine tabuisierte Zeit. Indem ich über den Tod in dem Krieg vor mehr als 100 Jahren schreibe, ermutige ich die Menschen, über den Tod auch während des Bürgerkriegs zu sprechen, Zugang zu bekommen zu dieser verbotenen Erinnerung, zu dem Geschehen, das noch nachwirkt.
ML: In Ihren Büchern spielt die Wasser-Metaphorik eine große Rolle, so auch in dieser Trilogie aus „Imani“ und „Asche und Sand“: Regen, Flüsse, Ozeane. Warum?
MC: Wasser, Regen, schafft die Verbindung zwischen Gott und sichtbarer Welt. Es geht weniger um den Ozean, die Flüsse oder Lagunen. Es ist der Regen, der diesen Bogen schlägt. Wenn es in meinem Land nicht regnet, dann sagen die Menschen, dass es die Götter bei sich behalten. Regen, Wasser, ist eine Art von Zeichen, von Sprache. Große Geister leben in Flüssen, im Ozean. Weniger im Süden als im Norden des Landes ist der Ozean das Haus der Geister. Im Süden deshalb weniger, weil es in der Volksgruppe der Nguni, die aus Südafrika stammt, das nicht so gibt; da leben die Götter in den Flüssen. Ich komme aus Beira, einer Stadt in den Sümpfen, und wenn das Wasser steigt und es regnet, dann sehen wir den Boden nicht mehr und alles ist von Wasser bedeckt. Ich erinnere mich daran, dass meine Kindheit weniger von der Sonne geprägt war als von Ebbe und Flut des Ozeans –Gezeiten waren wichtiger als Stunden.
ML: Sie haben eine sehr eigene Form der mosambikanischen Sprache, etwa mit Wortschöpfungen, entwickelt. Wie machen Sie das?
MC: Jeder Schriftsteller macht das, eine eigene Sprache in seiner Sprache zu entwickeln. In meinem Fall profitiere ich davon, dass in meinem Land die Menschen das Portugiesische als Zweitsprache sprechen, und wenn sie Portugiesisch sprechen, dann kommt es zu Neukonstruktionen und einem sehr freien Sprachgebrauch. Sie bringen ihre Kultur in die portugiesische Sprache ein, auf eine poetische oder metaphorische Art. Ich bin da sehr glücklich, denn es ist so, als würde meine Sprache, das Portugiesische, neu geschaffen – ich sehe sie voller Vertrautheit, mitunter wird sie mir aber auch fremd. Auf jeden Fall ist sie keine endgültige Version. Das heißt, auch ich muss mich neu erfinden, und während ich meine Sprache neu finde, erneuere auch ich mich.
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