26. Juni 2024
von Manfred Loimeier
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Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah schildert die Schrecken der Sansibar-Revolution

Von all den Büchern des Literaturnobelpreisträgers von 2021, die nicht in Zusammenhang mit der deutschen Kolonialherrschaft in Tansania stehen, ist Abdulrazak Gurnahs Roman „Das versteinerte Herz“ (Penguin Verlag, 362 Seiten, 21,99 Euro) das ergreifendste, berührendste und zugleich politischste Werk. Und selbstverständlich spart Gurnah nicht mit literaturhistorischen Anspielungen, die der Lektüre immer wieder eine neue Dimension geben. Das beginnt schon beim Titel, der im englischen Original „Gravel Heart“ lautet und Williams Shakespeares Theaterstück „Measure for Measure“ („Mass für Mass“) zitiert. „Unfit to live or die. O, gravel heart!“, heisst es dort und bezeichnet treffend, worum es in diesem nun in deutschsprachiger Übersetzung vorliegenden Buch aus dem Jahr 2017 geht: verflochten zu sein in ihrerseits mehrfach verflochtene Geschichten, ohne dass es ein Entrinnen gibt.

Salim, wie die männliche Hauptfigur mit Vornamen heißt, kehrt aufgrund des Todes seiner Mutter in seine Heimat zurück, in die Küstenregion Tansanias am Indischen Ozean. Oft hat er sich gefragt, warum ihm sein Onkel Amir ein Studium in Großbritannien finanzierte, warum seine Eltern sich trennten und seine Mutter Saida seinem Vater Masud dennoch täglich Essen schickte. Nun erhält er Antworten, unschöne Antworten, die ihm offenbaren, wie ahnungslos und nicht zugehörig er sich nicht nur im britischen Ausland fühlt, sondern auch am Ort seiner Geburt und Jugend.

Sachte nähert sich die Handlung des Romans „Das versteinerte Herz“ dem zentralen Thema: sexueller Missbrauch und seine Folgen. Was zunächst wie eine private Eheangelegenheit erscheint, entpuppt sich bald als systematische, brutale Nötigung: Weil Saidas inhaftierter Bruder Amir nur dann freikommt, wenn Saida mit Hakim schläft, einem Minister der neuen Revolutionsregierung auf Sansibar, lässt Saida sich auf diese Erpressung ein. Hakim will aber immer mehr, Saida wird schwanger, ihre Beziehung zu Masud untragbar, Am Ende wird Saida Hakims Frau, Masud geht ins Ausland, Amir kommt frei und begleicht seine Schuld an Salim.

Aber wie geht Salim mit dieser Wahrheit um? Die Unterstützung, die er erhielt, beruht auf dem Missbrauch seiner Mutter, und sein Stiefvater Hakim ist der Vergewaltiger seiner Mutter. Entgegen dem Theaterstück Shakespeares, in dem es um ebensolchen Machtmissbrauch geht, findet sich in Gurnahs Roman kein Retter ex machina, der den Frevel sühnt.

Zudem sind es die Männer, die in diesem Buch die Geschichten erzählen, Frauen kommen nur indirekt vor. Das muss hier leider so sein, denn unter der Oberfläche des privaten Dramas liegt eben das gesellschaftliche Drama Sansibars in den Jahren, die der Revolution von 1964 folgten. Damals wurde das arabisch geprägte Sultanat Sansibar von afrikanischen Rebellen gestürmt, die dort und auch auf dem Festland entlang des Küstenstreifens am Indischen Ozean Jagd machten auf alle, die als Profiteure oder Repräsentanten des Sultanats galten. Und die ersten und meisten Opfer waren die Frauen der verfolgten nichtafrikanischen Bevölkerungsgruppen. Sie wurden zu Freiwild erklärt, zwangsverheiratet, geschändet – und zwar ganz offiziell per Regierungsdekret, so schlimm und unverfroren, dass erst 1970 internationale Proteste fruchteten und diesem sexuellen Massaker ein Ende bereiteten.

Gurnah erzählt diese auf mehreren Ebenen angesiedelte Geschichte sehr feinfühlig und zart. Es geht ihm vordergründig nicht um Anklagen, Vorwürfe, Vergeltungsansprüche. Es geht ihm darum, wie Menschen leben, die derlei tragisches Gepäck in ihrem Inneren tragen, oder die noch immanent betroffen sind von diesen lebensprägenden Schicksalen ihrer Vorfahren. Das ist es, was den Roman „Das versteinerte Herz“ trotz seiner Geschichte so nah und ansprechend macht – vor allem auch, weil damit ja doch die Geschichte und das Schicksal der Mutter Saida erzählt wird, die niemals aufhörte, an ihren Mann zu denken, und die sich opferte, um ihren Bruder zu retten und ihrem Sohn die Zukunft nicht zu verbauen. Es ist Gänsehautlektüre angesichts dieser Frau, die in ihrem versteinerten Herz die Liebe bewahrte, und die als Beispiel steht für viele weitere, bisher nie wahrgenommene oder gewürdigte Frauen.